Oder: Warum ich fünf Schokoriegel gegessen habe
Seit einigen Monaten wüten in ihr die Gefühle, wenn sie nicht ALLEINE machen darf. Die Welt geht unter, wenn es nicht nach ihren Plänen läuft. Andere funken ihr dazwischen, haben ihre eigenen Vorstellungen davon, wie Dinge zu laufen haben. Sie will sich nicht immer anpassen. Zorn, Wut, Enttäuschung, Traurigkeit vermischen sich zu einem Gefühls-Kutzel*, der nur schwer wieder zu entwirren ist. Oft ist es egal, WAS sie selbst macht, Hauptsache selber. Ob sie es kann oder nicht, Hauptsache selber. Essen, wann, wie und was sie will. Bestimmen, wann sie zur Toilette muss. Wach sein, bis sie müde ist und darüber hinaus. Schlafen, so lange sie möchte. Die Momente, in denen sie die Möglichkeit hat, dehnt sie bis ins schier Unendliche aus, und die anderen werden stets ungeduldiger und fangen irgendwann entnervt an zu drängeln, zu schimpfen und zu schreien, warum es denn so lange dauern müsse. Dabei genießt sie ja nur ihre Freiheit der momentären Selbstbestimmung. Je mehr sie selbst bestimmen will, desto weniger scheinen die anderen es ertragen zu können. Und je weniger sie gelassen wird, desto mehr will sie es. Ihr Wille ist so überwältigend, dass sie wütet und schreit, weint, sich trotzig zurückzieht, Türen knallt, Sachen wirft und eine ganze Weile braucht, bis all diese Impulse sich wieder auf ein normales Level eingependelt haben. Sie BRAUCHT die Autonomie so sehr, um sich selbst spüren zu können. Wird sie ihr verwehrt, explodiert das ganze System an einem bestimmten Punkt. Sie braucht Feedback, aber keine Bestimmung. So häufig am Tag muss sie sich den gegebenen Umständen anpassen, zurückstecken, abwarten, Bedürfnisse anderer Menschen berücksichtigen. Da baut sich eine Wand aus Autonomie-Bedürfnis auf, die sich nur durch echte Autonomie, zumindest für eine Weile, relativieren lässt. Das ist alles ganz normal und typisch für jemanden in ihrer Situation. So kann sie ungeahnte Gefühle kennenlernen, ihre eigenen und die Reaktionen ihres direkten Umfelds studieren, ihre Wirksamkeit also. Sie will später selbständig sein, das Umfeld erwartet es sogar von ihr. Sich zu lösen ist ein wichtiger Schritt. An dieser Stelle vielleicht noch etwas zu früh, aber es geht ja auch ums Üben.
Das ist also alles relativ normal, habe ich mir sagen lassen. Anderen geht es ähnlich. Sie ist in der Autonomiephase. Sie ist 38 und Mutter zweier Kleinkinder. „Sie“ bin ich.
Selbst meint nicht unbedingt allein
Da muss ich euch nichts erzählen: Mit mindestens einem Äffchen Kind sind simple Tätigkeiten so gar nicht mehr leicht zu erledigen. Wenn die Suche nach dem Babyphon länger dauert als der Power-Nap des Babys, kommt man einfach mal zu nichts mehr. Autonomie ist ein Bedürfnis und muss befriedigt werden, wenn die Schale leer ist, und zwar unabhängig vom Kind. Heute habe ich fünf Schokoriegel gegessen, weil immer ein Kind von den ersten vieren etwas abhaben wollte. Ich teile gern mein Essen, aber heute hatte ich ein unvollständiges Gefühl, bis ich den fünften Riegel ganz allein gegessen hatte. Manchmal kann ich die Schale auffüllen, indem ich Dinge für mich SELBST tue, auch wenn meine Kinder dabei sind, manchmal muss ich wirklich eine Weile ALLEIN sein. Meine schmerzlichste Erkenntnis: Niemals versuchen, Dinge nebenher zu erledigen. Da leiden Kinder, ich und Arbeit gleichermaßen. Gewonnen habe ich hinterher nichts, nichtmal Zeit, weil alles hundert Mal so lange dauert und am Ende alle unzufrieden sind.
Oh, Moment ☝️, da war doch was – Perspektivwechsel: Mit mindestens einem Chef Elter sind anspruchsvolle Tätigkeiten gar nicht so einfach zu erledigen. Wenn die alles besser können, weil sie groß und „klug“ sind, kommt man einfach nicht dazu, sein eigenes Ding zu machen. Dass sie es können, weiß ich. Ob ich es kann (wovon ich überzeugt bin), würde ich gern selbst ausprobieren. Nein, alleine gelassen werden möchte ich nicht. Falls was ist, hätte ich gern ein Backup. Ich sage Bescheid, wenn ich Hilfe brauche. Ihrer Ansicht nach geht es schneller, wenn sie es machen. Mein Ziel ist aber der Weg. Deshalb werde ich nicht locker lassen, bis ich es selbst probiert habe.
35 & 3,5 – Autonomie als (unerfülltes) Bedürfnis
Warum nun gerade Autonomie?
- Das liegt zum einen an meiner Persönlichkeit: Ich bin total gern alleine und habe es gern ruhig um mich. 35 Jahre lang hat das super geklappt, seit 3,5 Jahren … äh ja.
- Zweitens ist mir während meiner eigenen Kindheit der adäquate Umgang mit Autonomie durch die Lappen gegangen. Wutausbrüche, eigene Meinung, Widerworte – das war nicht so gefragt damals.
- Drittens bedient das Alter meiner beiden Kleinkinder und deren Weg in die Autonomie gerade alle Trigger*, die von damals geblieben sind.
Ändern wir die Perspektive noch einmal: Ich erkenne mein autonomes Kind in meinen Gedanken und Gefühlen wieder und verstehe, dass dieser Drang nach Selbstbestimmung, alleine Machen und Entscheiden so quälend sein kann. Ein selbst bestimmendes Kind bedeutet nicht, es alleine zu lassen. Es bedeutet, ihm zuzugestehen, dass es nach einem Alltag voller Kooperation und Interaktion (das Teilen der Mama unter den Geschwistern ist bei uns gerade besonders fordernd für alle) ein verdammt großes Bedürfnis nach Autonomie hat. Starke Gefühle gehören nicht nur dazu, sondern sind auch unheimlich wichtig. Und anstrengend, wie ich selbst gefühlt habe am Tiefpunkt meiner Autonomie-Erfahrung. Als mich die Wut und Verzweiflung packte und ich nicht mehr ich selbst war, wie im Rausch, hat mich jeder Ausbruch weiter geschwächt, wo ich doch schon am unteren Limit der Erschöpfung war. Das ging über Wochen so, bis ich meine Mitte halbwegs wiedergefunden hatte. Das Kind erlebt das jeden Tag über Jahre. Puh. Käpt’n Elsa ist jetzt dreieinhalb, Fräulein Nilsson hatte letztens mit 14 Monaten ihren ersten echten Wutanfall mit sich auf den Boden werfen und um sich schlagen, weil etwas nicht nach ihrer Vorstellung klappte. Es ist anstrengend für mich, weil ich nicht so recht gelernt habe, normal mit „negativen“ Gefühlen umzugehen und sie zu begleiten, und es ist umso anstrengender für die Kinder. Doppelt, wenn Mama dann auch noch genervt reagiert. Das einzige, was ich also für sie tun kann, ist sie zu begleiten und zu lieben, ihnen den Weg zu erleichtern, wenngleich es mir in diesen Momenten leider noch nicht immer gut gelingt. Eins bleibt mir sicher: die Verantwortung.
Autonomie auf Autonomie – geht es ohne Kampf?
Mein Kind schreit „ich will aber so“ und mein inneres Kind schreit „aber ich will das sooo“, dann schreit noch das andere Kind und alle dann „wäääääääh“. Noch schaffe ich es nicht ganz, mir ohne Kampf meinen Freiraum, meine Auszeit oder Arbeitszeit zu verschaffen. Ich weiß: Kampf ist der falsche Weg, eine deplatzierte Idee von Gewinnen und Verlieren. Es ist meine Verantwortung, die Bedürfnisse möglichst aller Beteiligten rechtzeitig zu erkennen und mir das zuzugestehen, was ich brauche. Die Widerworte der Kinder werfen mich aus der Bahn, denn meine Prägung schleudert sich mir entgegen und hindert mich daran zu sagen: „Hey, ihr findet das jetzt blöd, aber ich brauche unbedingt mal eine Stunde für mich. Papa ist für euch da.“ Ohne schlechtes Gewissen oder brechendes Herz. Das großartige ist ja eigentlich, dass ich als Erwachsene überhaupt die Möglichkeit dazu habe. Das Kind ist zum Teil noch gar nicht in der Lage, irgendwelche Strategien zur Selbstregulation anzuwenden (also „vernünftig“ zu agieren). Das Gehirn übt noch. Die einzige Chance, diese stabil zu entwickeln, liegt aber genau darin, dass „negative“ Gefühle adäquat begleitet werden. Diese Gehirnareale (genauer: der präfrontale Kortex) MÜSSEN trainiert werden, um sich entsprechend auszubilden. Und, halleluja, meiner hätte wirklich noch ein paar Trainingseinheiten nötig gehabt.
Manchmal fühle ich mich wie Aschenputtel, die es nie schafft, auf dem Ball anzukommen, weil der fragile Zauber (Kürbiskutsche , Pferde , Kleid , Schuhe ) schon vor Mitternacht verpufft. Wann habe ich das letzte Mal ein Vorhaben (Projekte, Geschirrspüler, Wäsche, Klo, Duschen, Zähne putzen, Essen kochen, Essen essen, Fernsehen …) in Ruhe zu Ende geführt? Ich, die Mama, sage das. Das Kind sagt das, wenn die Welt der Erwachsenen das kindliche Spiel oder Denken durchbricht. Von der guten Fee wünschen sich meine Kinder vielleicht ewige Spielzeit, Liebe und Eis, und ich würde mir im Moment jedenfalls gern ein automatisch aufgeräumtes Haus, strukturierte produktive Zeit für mich und Geduld wünschen, denn schon bald ist der Zauber nämlich wirklich vorbei, schneller, als es mir lieb sein wird. Die Kinder werden groß und selbständig, und ich werde die gemeinsame Zeit vermissen.
Es geht darum, anzuerkennen,
dass jetzt die Zeit der Stille erstmal vorbei ist.
Sie wird wiederkommen.
Bis dahin ist Leben in der Bude,
das wir mit all seinen Aspekten genießen wollen.
Was tust du gegen bzw. für das unerfüllte Bedürfnis der Autonomie? Gibt es Aspekte, die dich genauer interessieren? Schreibe es mir in die Kommentare .
*Kutzel: regional für verwirrte Stelle z.B. im abgewickelten Garn oder im Haar