Sind Ballett und erziehungsfreies Leben vereinbar?
Um die Antwort vorweg zu nehmen: Eigentlich nicht, aber in gewisser Weise schon. Oder auch: Kommt darauf an, wie weit man bereit ist, sich mit Erziehung zu arrangieren. Auf jeden Fall: Ballett ist nicht frei von Erziehung, von einer gewissen Disziplin, von Regeln. Fußball auch nicht.
Damals: Magische Erinnerungen
Als Kind tanzte ich selbst Ballett. Nicht, weil irgend jemand mich pushen wollte, sondern weil ich den Drang dazu selbst fühlte.
Geliebt habe ich besonders die Vorbereitungen auf größere Aufführungen, die letztlich in der Zauberwelt des Theaters stattfanden. Es waren magische Momente für mich hinter der Bühne. Auch das Gesamtkunstwerk am Ende zu erleben, war unglaublich schön. Ich mochte das Tanzen sehr. Die strikten Rahmenbedingungen und Regeln (Kleidung, Frisur, Benehmen, Sprache, Disziplin, Choreographie …) machten mir nicht viel aus. Im Gegenteil, da ich mich an Regeln gut orientieren kann und ohnehin ein eher angepasstes Kind war. Es machte Spaß, bis es in der Schule Umstrukturierungen gab und es mir unangenehm, lästig und langweilig wurde. Ich hatte das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Mein Ehrgeiz mit gleichzeitigem logistischen Aufwand passten nicht mehr zueinander. Später tastete ich mich immer mal wieder ans Tanzen heran, auf einem unverbindlichen Level.
Heute: Dance Mom?
Es blieb aber immer ein Gefühl, eine Sehnsucht, die ich gern mit meinen Kindern teilen wollte – als Vorschlag, ohne sie ihnen aufzudrängen.
Käpt’n Elsa war nun gerade zweieinhalb, als ihre älteren Freundinnen aus dem Kindergarten anfingen, zur Ballettstunde zu gehen. Ich war aufgrund ihres Alters gar nicht auf die Idee gekommen, dass sie Ballett machen könnte. Doch sie sah die Mädchen, die alle die gleichen Ballettkleidchen angezogen bekamen, und wollte auch. Unbedingt. Sofort. Kompromisslos.
Ich wusste, dass die tänzerische Früherziehung (Pre-Ballett) normalerweise erst ab 4 Jahren angeboten wird und wollte meine Kleine eigentlich auch nicht so früh in einem Kurs anmelden, in dem ich nicht dabei war. Unbedacht sprach eine andere Mutter meine Tochter an: „Na, nächstes Mal kommst du auch mit.“ Und da war es dann vorbei. Täglich fragte die Käpt’n nach Ballett. Letztlich vertröstete ich sie noch eine Weile und trat dann mit der Ballettschule in Kontakt. Es hieß, schaden würde ein früherer Beginn nicht, es gehe eher darum, ob die Kleinen die 45 Minuten ohne Mama schon alleine durchhielten. Wir vereinbarten eine Probestunde. Das war kurz vor ihrem dritten Geburtstag. Käpt’n Elsa war begeistert. Die ganze Stunde ohne Mama war kein Problem. Sie bekam endlich ihr eigenes Kleidchen.
Tütü & Glitzer-Prinzessin
Dass die Kinder pro Gruppe gleich angezogen sind, befremdet einige Eltern anfangs. Ich erinnere mich, dass Kleidung im Ballett viel Bedeutung beigemessen ist, weil sie – wie in anderen Sportarten auch – bestimmte Funktionen erfüllt. Die hautengen Trikots zeichnen den Körper ab und lassen schnell Haltungsfehler erkennbar werden. Die Haare werden hochgesteckt, um die Halslinie sichtbar zu machen. Die richtigen Schuhe sind wichtig für die Bewegungsabläufe und Beweglichkeit auf dem Tanzboden. Dass alle Mädchen die gleichen Trikots tragen, erleichtert die Beurteilung der Bewegungen. Das Auge der lehrenden Person muss sich nicht stetig neu justieren (Farben, Linien …), sondern kann schnell reagieren und einschätzen. Die Synchronizität der Bewegungsabläufe wird unterstützt. Außerdem kann ein uniformeller Dresscode praktisch sein für spontane Vorführungen, denn es sieht gleich ein ganzes Stück geordneter und professioneller aus. Ballett ist für die Bühne gemacht.
Mir ist wichtig: Kein Kind wird ausgeschlossen, verurteilt oder bloß gestellt, wenn es etwas anderes als das übliche Trikot trägt. Ich mag ‚Sollte’ so viel lieber als ‚Muss’.
Ballett ist für viele eine rosa Prinzessinnen-Glitzer-Welt, für Mädchen gemacht. Die grazilen Bewegungen lassen Assoziationen zu Feen und Elfen entstehen. Die Kostüme bestehen traditionell aus Tüllröcken, glitzernd bestickten Miedern, Federn, Diademen etc.
Es werden Märchen und Prinzessinnen-Rollen getanzt. Der stolze Mann trägt und geleitet die Primaballerina. Ich habe aber auch schon viele andere Aspekte des Balletts bzw. zeitgenössischen Tanzes gesehen. Es gibt moderne, starke, dunkle Rollen, lustige Figuren, emotionale Choreografien mit tiefer Bedeutung, politische & gesellschaftliche Themen, schwere Thematiken, kritische Aussagen … Aber auch gegen das klassische Ballett finde ich nichts einzuwenden. Es bedeutet fundiertes Training, für das ein Reglement entworfen wurde, getanzte Geschichten verschiedenster Art und ja, magische Bühneneffekte. Ballett in seiner Vielfalt fasziniert mich.
Sind Druck & Disziplin schädlich?
Die amerikanische Serie „Dance Moms“ zeigt die Abgründe der Disziplin und des Ehrgeizes. Der Leistungsdruck der Trainerin und die Machtkämpfe der Mütter untereinander, die auf den Rücken der Kinder ausgetragen werden, um in Wettbewerben Bestleistungen zu erzielen, sind unglaublich gewaltvoll. Das ist ein extremes Beispiel.
In unserer Ballettschule sind normalerweise die Ballettlehrerin und eine tanzpädagogische Betreuerin in der Stunde für die Kleinen anwesend. Sie sind beide wirklich liebe Menschen. Der Beruf bringt es natürlich mit sich, eine gewisse Disziplin einzuführen, aber ich weiß, dass wir eine Ballettschule gefunden haben, wo es fachlich einwandfrei und dabei herzlich und menschlich zugeht, ohne Drill. Es geht um Leistung, aber eben um die individuelle.
„Es kommt dabei immer darauf an, ob ein Kind sich die Aufgaben freiwillig sucht oder dazu gezwungen wird. Druck und Disziplin, die man sich selbst sucht, sind nichts Verwerfliches, sondern können zu Exzellenz und damit eben auch zu großem Glück führen.“
Julia Dibbern in „Die Tyrannenlüge“, S. 48
Strenge
Es gibt vorformulierte Regeln für die Kleinen („Im Ballett sind wir leise und nett zueinander und wenn jemand traurig ist, trösten wir ihn/sie“). Die Kinder stört das nicht weiter, finden es amüsant, das im Chor aufzusagen. Ich nehme es hin, als Ritual.
Es wird mit Lob und Belohnung/Motivation (Aufkleber am Ende der Stunde für jeden) gearbeitet. Das ist für mich OK, solange bedingungslos für alle gleich, als Geschenk. Einmal habe ich zufällig die Aussage gehört, dass es für ein bestimmtes Verhalten (Klettern an der Stange o.ä.) keinen Aufkleber gebe und einmal, wer schreie, werde nicht abgeholt. Ich verstehe, dass in der knapp bemessenen Zeit, Stunde für Stunde, Tag für Tag, mit weiteren Stressquellen außerhalb des Trainingsbetriebs, aus Perspektive der Lehrenden alles in möglichst geordneten Bahnen ablaufen sollte. Trotzdem: Das gefällt mir für mein Verständnis (Drohung und Angst machen zur Einforderung von Gehorsam) natürlich gar nicht. Als ich im Nachhinein mit meiner Tochter darüber sprach, habe ich ihr versichert, dass sie immer abgeholt wird, egal was gesagt wird. Sie ist da sehr gefestigt, denke ich. Das Androhen von Strafe werde ich thematisieren, deren Umsetzung würde ich keinesfalls akzeptieren.
Freiraum
Die Kinder haben am Anfang ein bisschen Zeit, durch den Raum zu toben, Fangen zu spielen o.ä., bevor sie sich zum Kursbeginn in den Kreis setzen. Danach beginnen Aufwärmtänze, Dehnübungen und die spielerische Heranführung an erste echte Ballettfiguren sowie freies Tanzen.
Dem Gender-Klischee über Jungs und Ballett versucht die Schule durch aktive Auftritte in der Öffentlichkeit mit weiblichen und männlichen Tänzern jedes Alters entgegenzuwirken. Es gibt eine Klasse für Jungen und die älteren Gruppen sind gemischt. Für die Aufführungen werden u.a. Väter für Neben- oder Statistenrollen tänzerisch einbezogen.
Das Klima ist sehr gemeinschaftlich, denn jeder bringt sich nach seinen Stärken freiwillig ein, nicht nur tänzerisch, sondern auch für Organisatorisches, Bühnenbild, Requisiten o.ä. .
Ich habe selbst wieder mit dem Balletttraining begonnen. Mir tut es gut und ich lerne die Lehrerin besser kennen. Ich finde so recht gut Gelegenheit, mit ihr zu sprechen und mich mit den Abläufen vertraut zu machen.
Mein Ballett-Hippie
Käpt’n Elsa hat Spaß und geht jede Woche begeistert zur Ballettstunde. Aufführungen machen die ganz Kleinen noch nicht mit. Sie ist nun seit einem Jahr dabei.
Beim letzten Elternzuschauen haben alle Kinder schön angepasst ihre Figuren gezeigt und die spielerischen Tänze präsentiert. Käpt’n Elsa hat alles voll motiviert mitgemacht, so gut es eben ging (sie hatte die Füße beim Hopserschritt zum ersten mal koordiniert bekommen), kugelte sich aber auch schonmal auf dem Boden herum, zappelte statt still zu stehen oder hopste in die entgegengesetzte Richtung. Zwischendurch quakte sie immer mal „Frau [Lehrerin], guck mal, was ich kann“ oder „Guck mal, hier am Knie hab ich geblutet“ durch den Saal, während die Lehrerin sich auf ihr Programm zu konzentrieren versuchte.
Ich konnte über meinen kleinen Ballett-Hippie herzlich schmunzeln und fragte mich, ob andere Eltern wohl beschämt wären, wenn ihre Kinder so aus der Reihe tanzten. Ich fühlte nur Freude für meine kleine Große. Sie fühlte sich frei und ungezwungen. Es zeigte mir: noch ist es der richtige Weg für uns.
Wie Ballett mich geprägt hat
Auch heute noch merke ich: meine Synapsen fangen an zu arbeiten und der Ehrgeiz packt mich, wenn ich eine knifflige Choreografie lerne oder einfache Übungen perfektionieren möchte. Von Perfektion bin ich weit entfernt, ich bin keine besonders gute Tänzerin, aber der Kopf arbeitet. Ewige Routinen und wenig Herausforderung langweilen mich schnell.
Das Körpergedächtnis ist phantastisch, alle Abläufe, die ich als Kind gelernt habe, sind noch gespeichert und wieder abrufbar. Ich habe wenig Probleme, mir Bewegungen abzuschauen und zu kopieren. Die Koordination der einzelnen Körperteile funktioniert ziemlich gut.
Haltungsschäden (durch viel sitzende Tätigkeit und falsche Haltung im Alltag) habe ich trotzdem, aber wenn ich mich anstrenge und konzentriere, habe ich Haltung und Spannung, Grazie und Anmut, um dem entgegenzuwirken. Muskulatur und Beweglichkeit bauen sich schnell wieder auf, der Gleichgewichtssinn wird trainiert, ebenso das Gedächtnis.
Das Erlebnis, Musik in Bewegung zu übersetzen, ist äußerst befriedigend. Die Phantasie im ganzen Körper zu spüren verwandelt alle Logik und Mechanik in reines Gefühl.
Das gemeinsame Tanzen stärkt das Gemeinschaftsgefühl, die synchronisierten Bewegungen und Erscheinungsbilder wirken toll auf der Bühne, und gemeinsam einen Tanz zum Leben zu erwecken, ist absolutes Teamwork und Herzenssache. Dabei geht es im Idealfall um Miteinander und gegenseitiges Vertrauen. Ich spreche von meiner Schule, die Freizeittänzer*innen verbindet und auf freundschaftlicher und kollegialer Basis arbeitet, über das reine Tanztraining hinausreichend.
Worauf du achten kannst
Es gibt sicher auch die anderen, die triezen, disziplinieren, schikanieren, … . Deshalb hilft es, sich selbst in Ruhe ein Bild zu machen und genau hinzuschauen, dem Kind zuzuhören und Signale ernst zu nehmen.
Schau, wer dein Kind unterrichtet und ob die Maßstäbe an Erwachsenen ausgerichtet oder tiefgreifende Erfahrung und evtl. eine Spezialisierung auf Kinder vorhanden sind. Letztlich zählt immer zunächst das Bauchgefühl. Psychisch wie physisch ist es entscheidend, wie achtsam das Training, gerade bei Kindern, durchgeführt wird. Sie z.B. zu früh oder unter Gewalteinfluss (Runterdrücken, Beine hochdrücken) in den Spagat zu zwingen ist unethisch und gefährlich. Ein*e gute*r Lehrer*in weiß, welche Bewegungen und Dehnungen möglich und sinnvoll sind. Das Kind lernt freiwillig und achtet auf seine individuellen Grenzen. Ich als erwachsene Tänzerin habe ebenso die Verantwortung für meinen Körper und weiß am besten, was für mich geht und was nicht.
Zwang ist nicht nötig, sondern schädlich. Wenn die Gebühren gezahlt sind und das Kind nicht mehr möchte, ist das ärgerlich, aber kein Grund, dem Kind die Freude am Tanzen und der Bewegung endgültig zu vermiesen. Lass ihm Zeit und schau hin, was genau vorgefallen ist oder Unwohlsein verursacht. Druck hilft niemandem.
Eine gute Ballettschule ist notwendig, um Bewegungen unschädlich und für den Körper richtig einzuüben. Wie gesagt, das Körpergedächtnis vergisst nicht. Dennoch lieben es die Kinder natürlich, zu Hause frei und ohne Anleitung Ballett zu spielen, zu improvisieren und sich ihre liebste Musik zu ertanzen. Das solltest du ihnen immer ermöglichen. Vielleicht findest du ja auch selbst Spaß daran?