Bin ich zu schwach, um Grenzen zu setzen?
In der KiTa gelten wir als Eltern, denen es schwerfällt, nein zu sagen. Wir warten noch, bis das Kind fertig gespielt hat, auch wenn es etwas über die Abholzeit geht. Wir „erlauben“ Dinge, die bei anderen Eltern ein konsequentes Verbot wären. Wir gestehen unseren Kindern Stimmungsschwankungen zu und begleiten diese zeitweise sehr geduldig. Wir nehmen die Meinungen der Kinder ernst. Wir fragen nach ihrem Einverständnis. Wir versuchen, Dinge doch noch möglich zu machen. Wir weichen von festgelegten Wegen ab, sind inkonsequent.
Hubschrauber
Sind wir diese berühmt-berüchtigten Helikopter-Eltern, über die gespottet und gehöhnt wird? Die es ihren Kindern unmöglich machen, sich selbst zu entfalten und alles kontrollieren? Da sag ich mal nein, wir sind zu bequem für stetige Kontrolle und lieben nichts mehr, als dass unsere Kinder frei sein können. Und ja, wir tun auch Dinge, für die wir möglicherweise verspottet würden.
Durch Vertrauen und Zutrauen erfahren unsere Kinder ihr eigenständiges Tun. Durch uns bekommen sie Rückhalt und Hilfe, wenn sie es wünschen oder wir sie ernsthaft schützen müssen (bei akuten Gefahren zum Beispiel). Wir lassen ihnen den Freiraum, den sie wollen und brauchen. Sie bekommen von uns aber auch das Essen hinterher getragen, die Schuhe angezogen und meinetwegen auch die Klobrille warm geföhnt, wenn dies eine kreative Lösung für ein bestehendes Problem oder Bedürfnis darstellt. Das macht uns nicht zu Dienstboten und die Kinder nicht zu rücksichtslosen Menschen, so lange es Verbindung schafft. Und wenn Menschen der Meinung sind, dass dies absurd lustig ist, hat das wenig mit uns zu tun.
Was Außenstehenden schwerfällt zu begreifen, ist, dass wir nicht nicht nein sagen, weil wir uns nicht trauen oder es nicht könnten. Wir überlegen sehr wohl und sehr gut, wozu wir nein sagen und kommen im Alltag zu dem Schluss, dass es selten tatsächlich nötig ist. Im Gegenteil: Ich sage noch viel zu oft nein.
Lieber einmal mehr Ja als dreimal mehr Nein
Zu Hause haben wir weitestgehend eine so genannte Ja-Umgebung eingerichtet. Das bedeutet, dass ernsthaft gefährliche Dinge gesichert sind und kostbare Dinge aus dem Weg geräumt wurden. Das Sofa war ein Fehlkauf, und darüber bin ich heute sehr froh. Ich mochte die Farbe nie, die Kissen verrutschen, es ist unbequem, und ich habe kein schlechtes Gefühl, wenn die Kinder darauf turnen, essen oder malen. Klar sage ich: „Hey, legt euch doch was unter.“ oder „Passt ein bisschen auf, dass nichts umkippt. Stellt es lieber auf den Tisch.“ Darauf lassen sie sich dann gern ein, denn sie merken, dass ich keinen Stress habe, wenn doch mal was daneben geht.
Die ganze Zeit hinterher zu sein, um irgendwelche Regeln durchzusetzen, ist mir einfach nicht möglich. Dabei würden ich, der Papa und die Kinder zerbrechen – logistisch und emotional. So suchen wir immer nach kreativen und ganz individuellen Lösungen für jede Situation. Und nein, ich lasse die Kinder nicht meine teure Technik zerstören, weil sie daran Freude hätten.
Zum einen, warum sollten sie das tun? Sie sehen, wie ich die Dinge benutze und tun es mir gleich. Zum anderen kann ich ihnen sagen, dass mir manche Dinge wichtig sind, ohne ständig mit nein, nein, nein (oder Schlimmerem) hinterher zu laufen. Habe ich das Gefühl, mehrfach neinen zu müssen, stelle ich es halt weg oder denke mir etwas anderes aus. Und letztlich sind es doch alles Gebrauchsgegenstände.
Geht es um fremdes Eigentum und anderer Menschen Bedürfnisse, finde ich auch hier immer einen kompromissbereiten Weg, sowohl uns als auch allen Beteiligten so gut es geht gerecht zu werden. Und ja, ich spüre bis ins Mark, wenn sich andere Menschen in unserer Gegenwart gestört fühlen.
Maßvoll verbieten
Bei einigen Themen scheint Eltern das Verbot als oft einzige Möglichkeit einzufallen, um einen „maßvollen und gesunden“ Umgang des Kindes zu erzielen: Medien und Süßigkeiten zum Beispiel.
Ruth vom Kompass (derkompass.org) gibt dazu den Denkanstoß ‚mehr statt weniger‘ bzw. ‚dazugeben statt wegnehmen‘.
Es ist logisch, etwas zu verbieten, wenn man Angst hat oder überzeugt ist, dass das Kind von einem der genannten Dinge krank wird. Schau genau hin, was dies für eure Beziehung bedeutet.
‚Sowohl als auch‘ statt ‚entweder oder‘ !
Was wäre, wenn du nicht verbietest, sondern gesündere Alternativen zusätzlich und rechtzeitig anbietest, gemeinsame Aktionen startest (Rausgehen, Picknick, gemeinsamer Filmabend) und schlau kombinierst (Obst in Schokolade getaucht)? Dann ist ein grundlegendes Ja spürbar.
Ja & Amen
Soll ich meinem Kind jetzt alles erlauben?
Mal abgesehen davon, dass ich vom Konzept des Erlaubens und Verbietens nicht viel halte, sondern vielmehr auf situative Kommunikation und Verhandlung setze: Nein. Natürlich nicht. Wie denn auch? Wir nehmen am Leben teil und stoßen zwangsläufig ständig an irgendwelche Grenzen. Ganz besonders Kinder. Du musst nichts verbieten, um damit Grenzen künstlich aufzuziehen.
Dein Kind braucht deinen Schutz und deine Unterstützung. Wenn es im eiskalten See schwimmen möchte und es noch nicht kann, warum solltest du es zulassen? Wenn es dich aus Frustration schlägt, warum solltest du dich nicht schützen? Oder das Geschwister oder das Haustier? So wie du aus deinem moralischen Verständnis heraus wahrscheinlich jedes Lebewesen schützen würdest.
Es gibt aber so viele schöne Möglichkeiten, vom „Nein! Das darfst du nicht! Das tut man nicht!“ wegzukommen, hin zu alternativen Vorschlägen, positiven Formulierungen (Verneinungen werden von Kleinkindern oft nicht-verneint, also ohne das Wort nein oder nicht, wahrgenommen und verarbeitet) und echter Kommunikation.
Jesper Juul schreibt, dass ein Nein die Berechtigung im Ja zu sich selbst hat. Das bedeutet für mich, eigene Grenzen und Bedürfnisse zu wahren, ohne die des anderen zu verletzen.
Angst vor dem Nein
Weder Nein noch Ja sollten in Angst begründet liegen. Der Angst, „dass aus dem Kind etwas Schlechtes werden könnte“, zum Beispiel, oder aus Angst etwas falsch oder das Kind kaputt zu machen.
Es ist sehr, sehr gut achtsam zu sein und lieber nichts kaputt machen zu wollen. Angst macht dich aber unter Umständen selbst kaputt und wirkt destruktiv auf Verbindung zwischen Menschen.
Ich bin nicht frei von der Angst davor, nein zu sagen. Besonders gegenüber Erwachsenen. Ich fühle mich grundlegend immer verantwortlich dafür, was andere mir antragen, für ihre Probleme oder Gefühle und Gedanken. Ich kann einfach nicht nein sagen (oder fühle mich danach schuldig), wenn ich im Grunde gar nicht will.
Es brauchte viele Jahre Übung und tiefgreifende Erkenntnisse, um da ein Stück weit heraus zu kommen. Die klassische Erziehung sah zu früheren Zeiten (und heute noch) ein Nein aus dem Mund eines Kindes nicht vor. „Aber du musst …“, „Tu, was ich sage.“, „Aber du kannst doch nicht …“, „Wie, nein? Na hör mal.“, „Sag doch nicht immer Nein.“, „Was sollen denn die Leute …“.
Ich hatte eine sehr gute Kindheit und bin dankbar, in Liebe und Geborgenheit aufgewachsen zu sein. Es war nur nicht unbedingt üblich, das Kind bei Entscheidungen zu fragen. Es wurde halt gemacht, wie es gemacht wurde. Ein vehementes Nein nahmen Eltern bzw. Großeltern und Lehrer etc. durchaus persönlich. Wurde ich gefragt und meine Antwort ignoriert, so schwieg ich lieber. Schweigen gleich Einverständnis?
So gerate ich auch heute in Stress, wenn meine Kinder vehement NEIIIIIN sagen. Ich fühle mich erneut in meiner Integrität verletzt und hadere mit meinem eigenen Inneren, dem das, was die Kinder heute so frei ausdrücken, nicht vergönnt war.
So sage ich manchmal eben doch aus Resignation Ja oder aus fehlender Kraft heraus. Oder Nein, wenn ich einfach nicht mehr kann, oder ich glaube, diesem „man“ gerecht werden zu müssen. Also aus Angst, der Gesellschaft nicht angepasst genug zu sein, vor Kontrollverlust oder den starken Emotionen der Kinder nicht gewachsen zu sein.
Grenzen … Nase … Tanzen
Vor meinen Kindern habe ich keine Angst. Ich kann unsere Verbindung spüren und weiß, dass wir genau richtig sind, wie wir sind. Meine Ängste sind meine Baustellen, an denen ich arbeite.
Ich habe keine Angst, dass mir die Kinder „irgendwann auf der Nase herumtanzen“ oder „ihre Grenzen niemals kennenlernen“ oder „die Grenzen anderer niemals akzeptieren“.
- Ich sage Ja, wenn ich keinen Grund für ein Nein sehe.
- Ich formuliere lieber Alternativen, als durch ein Nein zu verbieten.
- Ich sage Nein, wenn es mir wichtig ist.
- Ich versuche rechtzeitig einzugreifen, also bevor etwas passiert, das ich nicht möchte.
- Manchmal ringe ich mit mir, wenn ein Ja einfach nicht möglich ist und ein Nein „nicht akzeptiert“ wird, weil ich so gern Ja sagen würde.
- Manchmal gibt es einfach keine perfekte Lösung.
- Manchmal ändere ich meine Meinung, weil ich doch noch Alternativen sehe oder bemerke, dass bestimmte Denkmuster in mir arbeiten, die mit dem Kind nichts zu tun haben.
- Manchmal bin ich auch einfach zu müde und erschöpft, um den Frust über ein Nein zu begleiten, und sage ja, obwohl ich mich nicht ganz wohl damit fühle.
Ich bin verantwortlich für das Gelingen meiner Vorstellungen – nicht das Kind.
Notiz aus aktuellem Anlass
Kinder sind und werden keine „Tyrannen“, auch wenn das bestimmte Leute propagieren. Vergiss diese Art zu Denken. Sie tut niemandem gut. Es gibt Kinder und Eltern in teils allergrößter Not, bei denen die (Ver)Bindung nicht mehr vorhanden ist, aus unterschiedlichen und vielschichtigen Gründen. Und es gibt Hilfe und individuelle Lösungswege für diese Menschen, diese Bindung sanft (!) und nachhaltig wieder herzustellen.
Statt Grenzen zu setzen, geht es im Alltag darum, die eigenen Grenzen zu wahren, auf sanfte, klare, liebevolle, achtsame, wertschätzende und gewaltfreie Art und Weise. Es ist wichtig, immer wieder alle Bereiche zu berücksichtigen und nach den Ursachen zu schauen.
Nein heißt Nein
Nicht zuletzt: Jeder Beteiligte hat das Recht, die Worte zu verwenden. Wenn es um die Wahrung der Integrität und der persönlichen Grenzen geht, ist ein Nein essenziell und gilt auch als solches.
Ein Nein eines Kindes ist ebenso viel wert wie das eines Erwachsenen. Umgekehrt ist es gut, dem Kind die eigenen „Grenzen“ mitzuteilen. Dass diese nicht verletzt werden, liegt jedoch in der Verantwortung des Erwachsenen. „Das Kind hat ein Nein zu akzeptieren“ wäre das Einfordern von Gehorsam, und der schadet (siehe z.B. „Wider den Gehorsam“ von Arno Gruen).
Wer fragt, bekommt Antworten – und das ist gut
Beide unsere Kinder hatten (bzw. haben noch) diese Phase, bei der augenscheinlich erstmal auf jede Frage mit Nein geantwortet wird. Sie testen die Wirksamkeit und das ist gut. Nervig, ja, aber wirklich gut.
Anfangs dachte ich, na, wenn sie ohnehin nur Nein sagen, muss ich irgendwie mit „doch“ drüberbügeln, damit überhaupt mal was geht. Oder halt nicht fragen (denn wer fragt, bekommt Antworten und sollte dann eben auch ein Nein akzeptieren, sonst wäre auch die noch so schön formulierte Frage oder Bitte ein Befehl).
Dann stellte ich aber fest, dass diese Neins zwar häufig, aber durchaus differenziert sind. Habe ich jedes Nein als solches akzeptiert und bin, wenn es mir wirklich wichtig war, mit kreativen Vorschlägen nicht müde geworden, kam irgendwann auch mal ein Ja – einfach so, nicht überredet. Huch, dachte ich. Das war unerwartet.
Kein Grund zur Diskussion?
Wickeln. Zähne Putzen. Anschnallen. Nach Hause gehen. Für die meisten „kein Grund zur Diskussion“. Nicht immer gibt es eine Lösung. Meistens ist es anstrengend. Aber immer gibt es andere Wege oder zumindest die Möglichkeit, nochmal innezuhalten und sich bewusst zu machen, WARUM ich das jetzt so entscheide und meinem Kind zu kommunizieren: „Ich höre dein Nein, aber mir fällt gerade keine bessere Lösung ein. Das verletzt dich, denn dein Nein ist etwas Wert und ich stelle mich gerade dagegen. Das tut mir leid.“ Das bedeutet aber keinen Freifahrtschein für „Doch!“.
Dein Körper ist dein Körper. Nein ist Nein.
Das gilt für Babys, Kleinkinder, Großkinder, Teenager und Erwachsene gleichermaßen!