Sein und Werden

Assoziation zu meiner Schulzeit

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Ich lebe ohne Behinderung.

In meiner Grundschulklasse (Mitte bis Ende 80er) gab es ein Kind, das im Lernen langsamer war als wir alle anderen. Es hat es niemals geschafft, seine Bücher und Hefte des vorherigen Faches wieder in die Tasche zu packen, um die neuen herauszuholen. Es hatte immer den gesamten Tisch voller Materialien liegen. Die Tinte kleckste aus dem Füller, weil es stets zu stark aufdrückte. Brote und Getränke lagen auf den Heften. Das Lesen ging nicht flüssig. Es stotterte. Und auch die körperlichen Anforderungen des Sportunterrichts waren für das Kind schwierig.

Die Lehrerin hatte resigniert und war froh, wenn es irgendwie beschäftigt war. Diagnosen gab es wohl noch nicht. Es wurde so mit „durchgeschleift“. Später wechselte es auf eine Förderschule, die damals noch „Sonderschule“ hieß, und war dort schließlich glücklich und leistungsstark.

Das Kind war in unserer Schule Hänseleien ausgesetzt. Ich schäme mich, damals durchgehend genervt und frustriert gewesen zu sein, weil es den Unterricht gebremst hat und ich nicht so schnell lernen konnte, wie ich wollte. Ich hatte nicht verstanden. Ich konnte mit dem Kind nicht viel anfangen. Auch der (eher einseitige) Versuch uns zu befreunden scheiterte. Heute weiß ich, das System war falsch, sowohl für das Kind als auch für mich.

Ab der fünften Klasse besuchte ich eine „Integrierte Gesamtschule“. Die Hauptfächer (Mathe, Deutsch, Englisch) waren ab der sechsten Klasse getrennt (in Gymnasial-, Real- und Hauptschulzweig), die anderen Fächer waren bis zur achten Klasse gemischt. Gut gedacht, miserabel gemacht. Mein Ärger zog sich weiter. Überfordertes Lehrpersonal hantierte mit reinen Beschäftigungsarbeiten, weil es mit der Klassendynamik mit massiv unterschiedlichen Leveln und Temperamenten nicht umgehen konnte. Genervte Kommentare auch von den Lehrenden, Augenrollen, willkürliches Gekreisch, um die „Störenfriede“ zur Ruhe zu bringen … habe ich als tägliche Umgangsform mit den Schüler:innen kennengelernt, die mehr Zeit und Zuwendung zum Lernen gebraucht hätten. Ich war froh, ab der neunten Klasse endlich mit Schüler:innen mit ähnlichem Lernlevel in meinem Tempo vorangehen zu können. Eine miese Bilanz.

Wir wurden nicht darin unterrichtet, miteinander sozial zu sein, es gab kein Team, es gab keine gegenseitige Hilfe. Letztlich war längst der Wille zum Lernen der „schwächeren“ Schüler:innen verschwunden. Man hatte sie aufgegeben. Das wiederum spiegelte sich immer mehr in ihrem Verhalten. Ich habe hin und wieder ihre Aufgabenblätter oder „vergessenen“ Hausaufgaben für sie gelöst.

So war für mich der Film Die Kinder der Utopie auch ein sehnsüchtiges Zurückblicken auf einen Weg, wie er hätte sein können, wäre die Gesellschaft damals schon so weit gewesen, wie die Berliner Schule 2005. Das bedingungslose Miteinander, die Wertschätzung, Toleranz allen Menschen gegenüber. Ich empfinde es als einen massiven Unterschied, ob man erzählt bekommt „sei tolerant“ oder es aktiv lebt, mit allen alltäglichen Herausforderungen, die das mit sich bringt.

Als ich eben auf der Website meiner alten Schule unter dem Punkt „Inklusion“ nachgeschlagen habe, war ich zuerst froh, diesen dort gefunden zu haben, andererseits klingt der vom Schulleiter verfasste Text dazu meiner Meinung nach eher nach einem Entschuldigungsschreiben für möglicherweise verärgerte Eltern (also quasi mich), deren Kinder nun von Gesetzes wegen mit Inklusion konfrontiert werden. Nach Herausforderungen und Unannehmlichkeiten. „Inklusiv“ steht in Anführungszeichen gesetzt und so klingt es auch. Nicht ein Wort über die dringende Notwendigkeit und die Chancen für alle.

Schade. Utopie eben.

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