Spiegel(neuronen) im Schlafrock

Das gewünschteste Wunschkind
im Gäste-Zimmer

aus der Serie „Geschicht(ch)en, die das Leben schreibt“

Als mein Sohn Josua etwa ein Jahr alt war, beschloss er von heute auf morgen, dass er keine Schlafanzüge mehr tragen wolle. Er wehrte sich vehement dagegen und wollte stattdessen in seinen Tagesklamotten ins Bett. Wir waren total verwundert. Seine Schwestern trugen nachts Schlafanzüge, wir Eltern trugen nachts Schlafanzüge. Da er viel draußen im Sand spielte, war uns seine Idee, in seinen dreckigen Sachen ins Bett zu gehen, nicht recht. Er bestand aber weiterhin darauf, keinen Schlafanzug anziehen zu wollen. Immerhin ließ er sich auf einen Kompromiss ein – wir durften ihm abends neue Anziehsachen überstreifen, mit denen er dann ins Bett ging und schlief. Im Sommer war das meist nur ein Body mit Windel, im Winter dann Schlüpfer, Hemd und Langarmshirt. Eigentlich hatte er auch auf eine Hose bestanden, er merkte aber schnell, dass ihm das nachts zu warm wurde, also ließen wir sie weg und zogen sie ihm morgens dann an. 

So weit, so gut.

Wir arrangierten uns mit seiner Eigenheit, die Monate gingen ins Land, sie wurde für uns zur Normalität. Nach drei Jahren Elternzeit – in der ich zwei Ratgeber geschrieben hatte – begann ich, wieder an einer Schule zu arbeiten. Da diese Schule in einem anderen Bundesland liegt, musste ich um 4.20 Uhr nachts aufstehen, und Josua musste zur Frühgruppe in die Kita. Was war ich froh, dass ich meinem Sohn morgens nur noch schnell Socken und Hose anziehen brauchte, und er quasi startbereit aus dem Bett fallen konnte! Ein Hurrah auf das Schlafen in Tagesklamotten!

Doch nun passierte etwas Unerwartetes.

Nachdem ich etwa drei Wochen lang gearbeitet hatte, bestand Josua plötzlich darauf, doch wieder einen Schlafanzug im Bett tragen zu wollen. Mir war das ehrlich gesagt gar nicht recht, denn unsere Zeit morgens war super knapp bemessen. Ich ärgerte mich. Warum wollte er denn nun plötzlich unsere eingespielte Routine torpedieren? Wollte er mich veräppeln? Erst wollte er keinen Schlafanzug, und nun, da ich mich daran gewöhnt hatte, und es mir Erleichterung brachte, wollte er plötzlich doch einen? War das eine Art Machtkampf?

Natürlich nicht. Aber um herauszubekommen, was in seinem kleinen Kinderkopf zu diesen Entscheidungen geführt hatte, musste ich ziemlich scharf nachdenken.

Passt auf, es war so: 

Ich hatte ihn natürlich Zeit seines Lebens abends in den Schlaf begleitet, d.h. ich lag neben ihm im Familienbett bis er eingeschlafen war. Als ich noch in Elternzeit war, stand ich danach noch einmal auf, um Erwachsenendinge zu erledigen, bis ich dann selbst müde wurde und ins Bett ging. Das heißt, ich legte mich zunächst in meinen Alltagsklamotten neben ihn ins Bett und zog erst später, wenn Josua schon schlief und es nicht mehr mitbekam, meinen Schlafanzug an. Für meinen kleinen Sohn sah es immer so aus, als würde ich mit Alltagsklamotten ins Bett gehen! Als ich dann aber wieder anfing zu arbeiten, ging ich mit ihm zusammen ins Bett, d.h. ich zog meinen Schlafanzug bereits an, wenn er neben mir im Bad Zähne putzte … 

Um den Rest zu verstehen, müssen wir einen kleinen Abstecher in das menschliche Gehirn machen.

Wir haben Spiegelneuronen im Gehirn, die uns unter anderem ermöglichen, genau das zu erlernen, was wir in der Gesellschaft, in die wir geboren werden, brauchen werden. Die Spiegelneuronen analysieren das, was die uns umgebenen Erwachsenen und älteren Kinder tun unbewusst und lassen das Kind sie dann nachahmen. So lernen Kinder überall auf der Welt unterschiedliche Dinge, je nachdem, was sie in ihrer Umwelt brauchen werden. Das ist in der Wüste ja etwas komplett anderes als in der Großstadt. 

Josuas Spiegelneuronen nahmen also auf, dass ich mich immer in Alltagsklamotten neben ihn ins Bett legte. Das war die Normalität, die er sah. Dass ich dann nochmal aufstand und mich umzog, merkte er nicht. Dass ich morgens im Schlafanzug aufwachte, war für ihn Magie. Kaum verwunderlich, er befand sich ja noch in der magischen Phase. Als ich mich dann ein paar Jahre später immer mit Schlafanzug neben ihn legte, registrierten seine Spiegelneuronen das als neue Normalität. Also imitierte er genau das. Wenn ich als Erwachsene das tat, schien es wichtig zu sein, also wollte er ebenfalls einen Schlafanzug im Bett tragen. Ganz einfach. Und auch wunderbar kooperativ, nicht wahr? Er wollte mich weder ärgern, noch in einen Machtkampf verwickeln! 

Und die Moral dieser Geschichte?

Wenn eure Kinder etwas tun, das ihr nicht versteht, und das euch vielleicht sogar wütend macht, sollte euer erster Impuls nicht sein, zu vermuten, dass sie euch ärgern wollen. Ich möchte, dass ihr dann stattdessen an Josuas Schlafanzug denkt. Überlegt, was das beste, unschuldigste Motiv für ihr Verhalten sein könnte. Die Taten unserer Kinder ergeben eigentlich immer irgendwie Sinn – wir müssen ihn nur erkennen.

Frohe Weihnachten!


✍️ Katja Seide – Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten

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