Brauchen Kinder Märchen?
Maike (@kinderphyiotherapiemaike) hat in ihren Instagram-Stories erzählt, dass sie ein Erlebnis mit Märchen hatte, das sie verunsichert hat. Ihr Sohn träumte schlecht, und wie sich später herausstellte, hat es eine Situation gegeben, in der die Kinder in der Kita ein Märchen vorgelesen bekommen haben, aus einer Originalfassung nach den Gebrüdern Grimm. In diesem Fall gab es keine Besprechung des Gelesenen. Maike hat die Gelegenheit genutzt, darüber mit der Kita über das Thema in den Austausch zu gehen, und hat um fachliche Einschätzungen gebeten, weil sie keine aktuellen Studien gefunden hat. Sie selbst hat, wie ich finde, eine wundervolle Strategie gefunden im Umgang mit dieser Problematik. Schau mal in ihren Story-Highlights nach.
Als Medienmentorin und Autorin für Kinder- und Jugendstoffe fühle ich mich einfach mal angesprochen und denke „laut“ darüber nach.
The Uses of Enchantment
„Kinder brauchen Märchen“ heißt eine von Maike erwähnte Publikation von Bruno Bettelheim aus dem Jahr 1977 (im Original „The Uses of Enchantment“ – den ich übrigens 1000 Mal treffender finde). Diese habe ich selbst nicht gelesen, sondern beziehe mich hier auf diese Besprechung von Heike vom Orde (IZI), die ich kurzfristig gefunden habe.
Dort wird beschrieben, dass das Werk des jüdischen Pädagogen und ehemaligen KZ-Häftlings als Antwort auf märchenkritische Debatten jener Zeit verfasst wurde.
„Die Veröffentlichung fiel in eine Zeit, in der Märchen in Verdacht geraten waren, als Instrumente bürgerlicher Repression Heranwachsenden falsche Vorstellungen und Einstellungen zu vermitteln. Die Gewaltdarstellungen, v.a. in den Erzählungen der Gebrüder Grimm, spielten in diesen märchenkritischen Debatten eine zentrale Rolle. So wurde aus gesellschaftstheoretischer Sicht argumentiert, Märchen legitimierten Gewalt, indem sie aggressive Lösungsmuster anböten. Aus pädagogischer Perspektive wurde vermutet, dass die dargestellte Gewalt Aggressionen und Ängste bei Kindern hervorrufen könnte.“
Heike vom Orde Bruno Bettelheim: „Kinder brauchen Märchen“
And here we are again. Wir sorgen uns, dass Kinder verängstigt werden, dass die Gewaltdarstellung von abgehackten Fersen und Zehen bei Aschenputtel oder ausgestochenen Augen bei Rapunzel, dem menschenfressenden Bösen – ob als Wolf oder Hexe – sie negativ prägt. Wir sehen Märchen als überholt und nicht kindgerecht an.
Bettelheims Publikation war nach vom Orde „die erste umfassende Studie in der Märchenforschung, die auf der Psychoanalyse Freuds beruhte.“ Er meine, in den Märchenfiguren seien Persönlichkeitsinstanzen („Ich“, „Über-Ich“, „Es“) symbolisiert. Er sehe die kindliche Psyche in einem Märchen abgebildet: Die Struktur repräsentiere das Denken eines Kindes, die Inhalte die entsprechenden Entwicklungsaufgaben und die Themen kindliche Entwicklungskrisen in Beziehung. Über die Wendung zum Guten, das Ende, die Auflösung, könne das Kind seine ich nenne es mal „dunklen“ Ängste und Phantasien selbstständig bewältigen.
„Aus der psychoanalytischen Perspektive Bettelheims handeln viele Märchen – »zwar unrealistisch, aber nicht unwahr« (ebd., S. 87) – von oralen und ödipalen Konflikten, von gewalttätigen und phallischen Fantasien, von Furcht vor Sexualität oder Kastration, von Erniedrigung, Selbstzerstörung und von Trennungsangst (vgl. ebd., S. 87 ff.). Dennoch vermitteln die »grausamen« Geschichten Lebenshilfe für das Kind, weil sie Schwierigkeiten des Heranwachsens thematisieren und weil sie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft und auf einen glücklichen Ausgang betonen.“
Heike vom Orde Bruno Bettelheim: „Kinder brauchen Märchen“
Ohne mich fachlich im Bereich Psychologie, Psychoanalyse oder Psychotherapie genug auszukennen, fühle ich mich persönlich mit Freud nicht wohl. Es steht hier auch nicht explizit, auf welches Alter sich Bettelheim bezieht, die Umfrage im Bericht wurde jedoch bei 9 bis 19-jährigen Personen durchgeführt.
Märchen und Erziehung
Vom Orde schreibt weiter, „dass es ein »wichtiges pädagogisch-kinderpsychologisches Werk ist, und zwar nicht nur, weil es Märchen rehabilitiert, sondern auch, weil es für die erzieherische Praxis bedeutsam ist« (Hoeppel, 1994, S. 211).“
An Erziehung habe ich tatsächlich als erstes gedacht, als ich Maikes Aufruf las. Märchen wurden zu erzieherischen Zwecken eingesetzt. „Geh nicht allein in den Wald, da kommt der böse Wolf und frisst dich.“ „Sei nicht so faul, sonst ergeht es dir wie der Pechmarie.“ Und so weiter. Wie der „Struwwelpeter“ eben. Kinder werden – ob von den Grimms so beabsichtigt oder nicht – zu pädagogischen Zwecken geängstigt. Das ist über 200 Jahre her. Darüber sind wir heute längst hinaus, hoffe ich.
Die Gebrüder Grimm
Ich lebe in Kassel, der Stadt, in der die Gebrüder Grimm ihre Märchen sammelten, unter anderem von Dorothea Viehmann, und auf der „Knallhütte“, wo Reisende einkehrten und von weit her Geschichten nach Nordhessen trugen. Viele, vielleicht alle, Geschichten hatten wahre Bezüge. Der böse Wolf war vielleicht ein Mann, der ein junges Mädchen ansprach und entführte. Die sieben Zwerge waren vielleicht die Bergarbeiter-Kinder, die durch die gedrungenen Schächte von Bergfreiheit kriechen mussten, kaum Tageslicht sahen und sich in ihrem Körperwuchs nicht „normal“ entwickeln konnten. Schneewittchen könnte eine Adelige gewesen sein, die aus erbrechtlichen Gründen ihr Leben lassen musste. Das Dornröschenschloss könnte die Sababurg gewesen sein. Wer weiß. Jedenfalls weiß ich, dass Märchen hier die Region prägen. Wie Dr. Bettina Gruber auf Maikes Story antwortete: Märchen sind Kultur.
Die Grimm-Welt, das Museum über die Gebrüder Grimm hier in Kassel, zeigt die Fülle der Arbeit zur Begründung der Germanistik und des Sprachschatzes, den die Brüder zeitlebens gesammelt und dokumentiert haben. In diesem Museum gibt es auch einige wenige Stationen für Kinder, unter anderem einen dicken Boxsack, der als „Hintern“ der Hexe verkleidet ist, und den man über eine Schiene Richtung Ofen schieben kann, worauf ein Kreischen ertönt. Meine damals vielleicht dreijährige Tochter fand das erst merkwürdig, dann lustig, aber hat irgendwie überhaupt nicht verstanden, worum es eigentlich geht.
However. Von Maikes Ausgangspunkt aus gesehen reden wir eigentlich über Kindergartenkinder, die diese Geschichten unreflektiert vorgelesen bekommen.
Kinder brauchen Geschichten
Und hier möchte ich einspringen und sagen:
„Ja! Kinder brauchen Geschichten, die Magie, das Verzaubert-Sein. Von Anfang an und happily ever after.“
Katherine Zimmermann (Die Medienmentorin)
Absolut und ohne Frage. Kinder müssen auch nicht überbehütet werden. Kindern darf etwas zugetraut werden, und oft genug werden sie mit seichten Inhalten weit unterfordert. Aber jedes Kind ist eben anders, einzigartig.
Es gibt den Jugendschutz, die FSK Altersfreigabe für Filme, die USK für Computerspiele. Und selbst die verändert sich Jahrzehnt für Jahrzehnt (und ist noch immer viel zu grob unterteilt). Es ist schon ziemlich lustig, wenn man auf die Listen der Vergangenheit schaut. Heute würde ein solcher Inhalt in seiner originalen expliziten Art jedenfalls nicht mehr durchgehen. Letztlich rechtfertigt eine kulturelle Wichtigkeit auch nicht das unreflektierte Nutzen der Materie. Im Gegenteil. Rassistische Formulierungen werden heute meiner Meinung nach zurecht kritisch gesehen. Und so geht es mir auch mit den Märchen.
„Guten Tag, ich habe hier ein Skript über ein Mädchen, das sein Leben lang isoliert in einem Zimmer eingesperrt verbringt. Als jemand sie retten kommt, werden ihm die Augen ausgestochen. Wahre Liebe findet aber immer zusammen. Was halten Sie davon? Ja, nein, kein Tatort, eher Kinderprogramm, nachmittags?“
Kontext, Baby
Stellen wir uns nochmal die Gebrüder Grimm mit ihrem „Hütt“-Bier in der Hand in der Gaststätte vor, mit Dorothea Viehmann, im Stimmenrauschen der Reisenden zwischen Kassel und Frankfurt, Hufgeklapper draußen, die Pferde werden umgespannt und für die Nacht versorgt, und Anekdoten und Geschichten werden ausgetauscht, größer gemacht, erfunden und umgedichtet. Es gab halt keine „Unterhaltungsmedien“. Das Lesen war nur wenigen Privilegierten vorbehalten. Vom gesprochenen Wort lebten die Geschichten. Sie wurden sich in der Familie am Feuer in der Stube erzählt, beim Essen oder bei der Handarbeit. Natürlich waren Kinder dabei. Natürlich waren die Geschichten spannend und gruselig. Aber über Jugendschutz hat man sich damals halt einfach keine Gedanken gemacht.
Wir müssen uns die Märchen also im Kontext anschauen. Damals erzog man Kinder anders, sprach mit ihnen anders, hatte eine völlig andere Sicht auf die und ihre Psyche. Die Gesellschaft war eine andere. Dass das berühmte Werk „Kinder- und Hausmärchen“ heißt, hat also von heute aus betrachtet gar nicht so viel zu sagen.
Wahrheit, Code & Realität
Die Märchen sind (wie im Übrigen alle Geschichten, auch Filme) in einem bestimmten „Code“ verfasst, metaphorisch vielleicht, verklausuliert für Dinge, die man nicht direkt aussprechen kann oder will, in einem Kontext, der das Zeitgeschehen und die Gesellschaft, das Leben und die Menschen zu dieser Zeit, immer mit einschließt. Die Dechiffrierung einer solchen Geschichte bedarf aber der Kenntnis des Codes. Ansonsten bleibt es die zärtliche Übersetzung, und die erzählt vielleicht eine ganz andere Geschichte. Wir sollten unseren Kindern diesen Code, sofern wir ihn kennen oder zumindest ahnen, zu nutzen.
Zeichentrickfilme sind ja auch nicht pauschal für Kinder geeignet, auch wenn manche Menschen diesem Irrtum erlegen mögen. Die Genres und Zielgruppen sind hier vielfältig wie in Realfilmen und Büchern auch.
Märchen sind eine Übersetzung bestimmter (erwachsener) Botschaften oder einer Moral in ein kindlich-phantastisches Setting. Dass reale Stereotypen oder Figuren dabei als „Wolf“ oder „Hexe“ verkleidet werden, macht es aber nicht kindertauglicher (vergleiche auch Fabeln).
„Dem Vorwurf, dass Märchen unwahr seien, setzt Bettelheim entgegen, dass die Wahrheit des Märchens »die Wahrheit unserer Fantasie, nicht die der normalen Kausalität« sei (Bettelheim, 2006, S. 136).“
„Aus der psychoanalytischen Perspektive Bettelheims handeln viele Märchen – »zwar unrealistisch, aber nicht unwahr« (ebd., S. 87)“
Heike vom Orde Bruno Bettelheim: „Kinder brauchen Märchen“
Herr Bettelheim hat natürlich Recht, dass Geschichten immer in ihrer Welt, in ihrem System wahr sind. Bei Filmen oder Büchern sind sogar sehr phantastische Geschichten realistisch, sofern sie nachvollziehbar erzählt sind. Sie folgen ganz bestimmten Gesetzen und Regeln, die innerhalb ihres Systems logisch und schlüssig sind. Ich mag die verschiedenen transferierten Wahrheiten von Geschichten sehr und finde eher, dass bestimmte Märchen die Realität aus heutiger Seh-, Erzähl- bzw. Rezeptionsgewohnheit sogar ziemlich platt eins zu eins übersetzen. Möglicherweise jedenfalls, je nach Interpretation. Und für mich ist immer die entscheidende Frage: Welche Wahrheit erzählt denn die Geschichte?
Wertesysteme & Rollenbilder
Das Wertesystem eines Märchens ist halt ohnehin von dem vergangener Zeiten geprägt. Die alte Frau, Hexe, Kindermörderin; das naive keine Mädchen, das dem Wolf arglos folgt; die eitlen Stiefmütter; … Es ist eben nicht nur die offensichtliche Gewalt, die wir unseren Kindern hier vorsetzen. Es sind Werte, die schon Jahrhunderte lang die Generationen vor uns geprägt haben, und von denen wir uns heute noch immer aktiv befreien müssen/sollten/können/dürfen.
Es gibt so viele Geschichten, die wir Kindern „einfach so“ mitgeben können, mit Werten, die für eine wertschätzende und vielfältige Sicht auf die Welt unendlich wertvoll sind. Bestimmte Märchen – sehr viele – gehören in meinen Augen einfach nicht (mehr) dazu. Zumindest nicht zu früh und ohne weitere Begleitung.
Individuelles Eintauchen
OK, die Kids bearbeiten ihre Aggressionen, wenn sie imaginär die Hexe ins Feuer schubsen dürfen. Ab einem Alter von meines Wissens 9 Jahren können Kinder das Phantastische überhaupt erst abstrahieren, von der Realität einigermaßen abgrenzen. In Computerspielen tun sie vielleicht (im gewissen Alter) auch solche Dinge oder schauen sich Filme an, die noch gar nicht für ihr Alter ausgelegt sind. Für manche Kinder ist das OK, für manche eher oder absolut nicht. Gerade, wenn Kinder – von Freund:innen oder in diesem Fall Begleitpersonen – in die Situation gebracht werden, quasi unfreiwillig Inhalte zu konsumieren, für die sie noch nicht bereit sind, ist eine intensive Nachbereitung und Aufarbeitung des Gesehenen nötig, um diese Inhalte adäquat innerlich verarbeiten zu können.
Kinder tauchen in Geschichten ein, ob gehört, gelesen oder gesehen. Sie gehen emotional voll rein. Und das ist wichtig. Sie durchleben eine Identifikation mit der Held:in, bearbeiten ihre Themen, ziehen Schlüsse über reale Erlebnisse, vergleichen und lernen. Geschichten sind wichtig für die kindliche Entwicklung. Dass es Märchen sein sollten, mehr als andere Kinderliteratur, so steht es auch in vom Odens Text, dafür gibt es keine Anhaltspunkte.
Das Konzept von Gut und Böse
Vom dramaturgischen Gesichtspunkt ist „Gut“ gegen „Böse“, und „Gut“ gewinnt immer, die klassische Zweiteilung, besonders gern in Hollywood genutzt. Sowjetunion vs. USA, Roboter vs. Menschen, King Kong vs. Godzilla, Cowboys vs. Aliens, Die Vögel vs. eine Kleinstadt, USA gegen den Rest der Welt und das Universum … Abgewandelt natürlich in vielen, vielen Geschichten, auch im Kleinen. Spannung durch Konflikte, simpelste Variante. Äußere Konflikte sind aber nur stark, wenn auch innere Konflikte ins Spiel kommen. Und, Surprise, Konflikte kann man auch anders erzeugen als den „Bad Guy“ als einzige Spannungsquelle zu etablieren. Aber wie gesagt, in den Märchen steckt sicher mehr verborgen als nur das.
Medienkompetenz & Medienbildung
Wenn ich mir die wunderbaren Geschichten anschaue, die Jahr für Jahr auf den Markt kommen, die sich an die Zeit und ihre Werte anpassen, gibt es keinen Grund, Kinder auf Teufel komm raus oder gar im Kindergarten mit den „alten Schinken“ (hier in Nordhessen wäre es vielleicht die „Ahle Worscht“) zu konfrontieren. Kultur lernen, natürlich, aber doch eher begleitet und in einem Alter, wo das Reflexionsvermögen eines Kindes bereits vielseitig geschult wurde bzw. ist.
Die Situation, wie Maike sie erlebt hat, zeigt, wie wichtig Medienbildung privat und in der Arbeit mit Kindern ist. Denn, ja, ein Buch ist auch ein Medium, das Geschichten transportiert. Es reicht eben nicht, die elektronischen Medien kritisch zu betrachten, während Bücher durchgehend als wertvoll gelten. Wir müssen die Diskussion auf die inhaltliche Ebene verlagern und den Fokus auf Medienbildung legen, die über das Bedienen von Geräten weit hinausgeht.
Wir Erwachsenen haben die Aufgabe, Kinder verantwortungsvoll, altersgerecht und bedürfnisorientiert im Rahmen der Mediennutzung – wie analog oder digital sie auch sein mag – zu begleiten. Wie wichtig es doch ist, den inneren Widerstand zu überwinden und die Medienbildung auch in Kindergärten und Schulen zu integrieren, zeigt die Märchen-Debatte sehr gut. Danke, Maike, für diese Anregung, einmal genauer ins Thema einzutauchen. Und bestimmt habe ich da noch nicht fertig gedacht.
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